Ein transparentes System für den Wiederaufbau in Gaza

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Gaza Destruction 2014
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Soll ein weiteres Mal Geld in den Wiederaufbau Gazas gesteckt werden, ohne dass es eine politische Lösung gibt?

Das Ausmaß der Zerstörung ist noch nicht genau zu beziffern. Sollten die Gelder der Geberkonerenz von Kairo jedoch für dieselbe Art von Wiederaufbau verwendet werden, wie nach den letzten beiden Kriegen, wird das Leiden in Gaza unvermindert weitergehen.

Der Gazastreifen – eines der der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt – hat in nur sieben Jahren drei Kriege durchgemacht. Der dritte Krieg allerdings war schlimmer als die beiden vorangegangenen. Israels 22 Tage dauernder Angriff in den Jahren 2008/09 und der achttägige Angriff im Jahr 2012 waren schrecklich – und ich sage das, als jemand, der beide erlebt und überlebt hat – aber der letzte Krieg übertraf sie beide.

Es ist zu früh, das Maß der Zerstörung und die Zahl der Opfer genau zu beziffern. Noch werden die Schäden erfasst, und da die Zerstörung so gewaltig war, geht man davon aus, dass noch Monate vergehen, bis dieser Prozess abgeschlossen ist. Die UNRWA, die UNDP und wichtige Ministerien der Palästinensischen Autonomiebehörde haben vereinbart, die Schäden gemeinsam zu erfassen. Vorläufige Zahlen des UN-Amtes für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten sowie anderer vertrauenswürdiger Stellen besagen, dass während der 51 Kriegstage 2.133 Palästinenser ums Leben kamen, darunter 1.489 Zivilisten, wovon 500 Kinder und 257 Frauen waren.

Unter den Getöteten befanden sich 16 Journalisten, 23 waren medizinisches Personal, elf bei UNRWA beschäftigt. Hinzu kommen über 11.000 Verwundete, viele von ihnen mit schweren Verletzungen, die bleibende Schäden hinterlassen werden. Auf der Gegenseite, in Israel, starben 69 Menschen, darunter vier Zivilisten und ein Ausländer. Anfängliche Schätzungen gehen davon aus, dass sich die Kriegsschäden auf drei Milliarden US-Dollar belaufen. (Siehe den Bericht des Amts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der UNO).

Dieser Krieg war aber nicht nur deshalb schlimmer als frühere, weil es mehr Tote gab - es wird dieses Mal auch erheblich schwieriger sein, Gaza wiederaufzubauen. Die Schäden summieren sich, denn zahlreiche Zerstörungen der beiden vorhergehenden Kriegen waren noch nicht wieder behoben, bzw. wiederaufgebaut worden. Vor dem letzten Krieg warteten noch 500 Familien auf den Wiederaufbau ihrer in den vorigen Kriegen zerstörten Häuser. Auch viele Schäden an Infrastruktur und Brunnen waren noch nicht behoben worden. Man schätzt, dass allein der Krieg in den Jahren 2008/09 Schäden von ungefähr 1,7 Milliarden US-Dollar verursachte – und zwar an landwirtschaftlichen Betrieben, Fabriken, öffentlichen Einrichtungen, Regierungsgebäuden, Straßen, dem Strom- und Wassernetz, dem Abwassersystem sowie dem Telefonnetz (siehe den Bericht von Amnesty International).

Eine vorläufige Schadensabschätzung

Das Ausmaß der Schäden, zu denen es im Sommer 2014 kam, lässt sich folgenden, noch vorläufigen Schätzungen entnehmen: dem Initial Rapid Assessment des Amts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der UNO sowie dem Humanitarian Dashboard derselben Organisation. Beide Quellen belegen, dass

  • 20.000 Wohneinheiten vollständig zerstört oder schwer beschädigt wurden; 24.300 wurden teilweise zerstört.
  • 500.000 Menschen – das sind 28 Prozent der Bevölkerung – mussten während des Kriegs aus ihren Wohnungen fliehen und Zuflucht suchen in Unterkünften des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) sowie in Schulen und Parks. Derzeit können geschätzte 108.000 Menschen nicht zurückkehren, da ihre Häuser durch Kriegsschäden unbewohnbar geworden sind. Die meisten dieser Menschen haben nicht nur ihre Unterkunft verloren, sondern auch ihre gesamte Habe – Möbel, Kleidung, Autos und Dokumente.
  • Tanks mit insgesamt 300.000 Litern Industriediesel für Gazas einziges Kraftwerk zerstört wurden und das Kraftwerk selbst lahmgelegt wurde.
  • es als Folge dieser Zerstörungen in Gaza zu erheblichen Engpässen bei der Versorgung kommt, und die Menschen nur vier bis sechs Stunden am Tag Strom haben.
  • Dutzende Brunnen und Klärwerke zerstört wurden, und eine Umweltkatastrophe mit erheblichen Gefahren für die Gesundheit der Bevökerung droht.
  • an die 450 Fabriken und Handelsniederlassungen zerstört wurden, wozu auch Geschäfte zählen, Tankstellen und Zementfabriken in der Grenzregion.
  • auch viele Regierungseinrichtungen getroffen wurden, darunter das Finanzministerium, das Innenministerium, das Ministerium für religiöse Stiftungen (Waqf), die allgemeine staatliche Personalverwaltung sowie auch Dutzende von Moscheen.

Eine weitere Geberkonferenz

In Kairo fand am 12. Oktober 2014 eine Geberkonferenz statt, auf der es um die internationale Hilfe für den Wiederaufbau von Gaza ging. Angeregt wurde diese Konferenz vom norwegischen Außenminister während eines Besuchs in Katar, Mitte Juli, während der Verhandlungen zu einem einen Waffenstillstand. Man sollte sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass bereits nach dem Ende der Operation Cast Lead am 2. März 2009 eine Konferenz für den Wiederaufbau von Gaza in Scharm El-Scheich (Ägypten) stattfand.

An dieser Konferenz nahmen seinerzeit Vertreter von 70 Staaten und 16 internationalen Organisationen teil, aber Institutionen aus Gaza, die Führung von Hamas inbegriffen, waren nicht anwesend. Die Tatsache, dass der Aktionsplan zudem nur auf Englisch vorgelegt wurde (eine arabische Fassung erschien erst Monate später), zeigte, dass die Palästinensische Autonomiebehörde kein Interesse daran hatte, zivilgesellschaftliche, wissenschaftliche und anderen palästinensische Institutionen an dem Prozess zu beteiligen.

Auf dieser Konferenz legte der damalige palästinensische Premier Salam Fayyad einen Plan in Höhe von 2,8 Milliarden US-Dollar vor, von denen allerdings 52 Prozent in den Haushalt der Autonomiebehörde fließen sollten, um Finanzlöcher zu stopfen. Tatsächlich zugesagt wurden dann aber Gelder in einer Gesamthöhe von 4,48 Milliarden US-Dollar – 167 Prozent von dem, was die Autonomiebehörde veranschlagt hatte, – ein außergewöhnliches Ergebnis, wenn es um  internationale Finanzhilfen geht. Die schlimme Lage, in der Gaza sich heute befindet, – viele Schäden des vorigen Kriegs wurden nie behoben – wirft die Frage auf, wie viel von den zugesagten Geldern auch tatsächlich ausbezahlt wurde – und wohin dieses Geld floss. Bis heute gibt es keine umfassende Dokumentation, die diese Frage erörtern würde.

Die EU, die im Jahr 2010 20 Millionen Euro spendete, mit denen einige der großen Fabriken, die zerstört worden waren, wieder aufgebaut werden sollten, muss sich fragen, ob sie ein weiteres Mal Steuergelder in einen Wiederaufbau stecken will, der stattfinden wird, ohne dass es eine politische Lösung gibt, oder einen nachhaltigen und transparenten Plan für den Wiederaufbau. All jene, die ernsthaft daran interessiert sind, dass Gaza wahrhaftig und auf Dauer wiederaufgebaut wird, müssen sich heute, im gegenwärtigen politischen Klima, genau diese Frage stellen, andernfalls droht sich die Geschichte zu wiederholen.

Selbst wenn Hamas nicht an der kommenden Geberkonferenz teilnimmt – und es sieht nicht so aus, als würde sie eingeladen – gibt es andere Institutionen und Personen aus Gaza, die teilnehmen könnten. Hamas wird der Palästinensischen Autonomiebehörde sehr wahrscheinlich alle für die Verhandlungen notwendigen Informationen zur Verfügung stellen. Denn um an Popularität zu gewinnen will die Organisation ,  der Bevölkerung in Gaza unbedingt beweisen, dass man am Verhandlungsprozess teilnimmt.

Wie Gaza wiederbelebt werden kann

Für einen erfolgreichen Wiederaufbau muss die internationale Gemeinschaft auf Israel Druck ausüben, die Blockade von Gaza zu beenden. Erst wenn das geschieht können wieder Rohstoffe eingeführt werden. Unterbleibt dies, wird Gaza auf lange Sicht von Almosen leben müssen.

Die Fehler der Vergangenheit dürfen nicht erneut gemacht werden. Die Palästinensische Autonomiebehörde sowie internationale und regionale Geber sollten sich regelmäßig und gründlich mit der Hamas-Führung austauschen sowie mit NROs, Unternehmensverbänden und Universitäten in Gaza, damit die Schäden präzise eingeschätzt und geeignete Maßnahmen ergriffen und umgesetzt werden können. Ganz besonders sollte darauf geachtet werden, dass soweit wie nur möglich örtliche Firmen und Einrichtungen mit den notwendigen Arbeiten beauftragt werden, damit der Wiederaufbau von Gaza ein nationales und kein internationales Projekt wird und ein Großteil der Mittel auch wirklich der palästinensischen Gesellschaft zugutekommt.

Örtliche, regionale und internationale Geber sowie Spendenkampagnen für Gaza müssen aufeinander abgestimmt werden. Auch die Arbeiten vor Ort müssen präzise geplant werden, damit es nicht zu Überschneidungen kommt. Ein transparentes System muss eingerichtet werden, mit dem sich Spendengelder überwachen lassen, und über das potentielle Empfänger erfahren, wie sie in ihren Genuss kommen können. Die Einrichtung, die diese Mittel verwaltet, sowie die Grundsätze, die hierbei greifen, müssen transparent sein.

Es ist wichtig, darüber zu sprechen, wie man die aufgelaufenen Einlagen der Banken in den Palästinensischen Autonomiegebieten nutzbar machen kann – immerhin handelt es sich dabei um acht Milliarden US-Dollar. Eine Möglichkeit wäre, dass die Palästinensische Autonomiebehörde Kredite bei den Banken aufnimmt und mit diesen Hypotheken für Wohnungen kauft – Wohnungen für Familien, die durch den Krieg obdachlos geworden sind. Bemerkenswerterweise stehen, vor allem in Gaza-Stadt aber auch anderenorts in Gaza, einige tausend Wohnungen leer, da sie zu teuer sind.

Man könnte Hypotheken-Programme auflegen, um mit den Bankeinlagen etwas gegen die Wohnungsnot zu unternehmen. Was größere Projekte betrifft, könnte man auf international anerkannte Anlageinstrumente wie Konzessionierung, strategische Partnerschaften und Joint Ventures setzen, um die Energieversorgung auszubauen, einen Hafen und Flughafen zu errichten, und regionale Entwicklungsprojekte auf den Weg zu bringen.

Dies sind nur einige Ansätze, mit denen man den Palästinensern in Gaza die Rückkehr in ein normales, menschenwürdiges Leben ermöglichen könnte. Im Jahr 2012 prognostizierte die UNO, dass Gaza im Jahre 2020 unbewohnbar sein würde, wenn die gegenwärtigen Entwicklungen nicht angehalten würden. Das war vor dem letzten Krieg. Will man die 1,8 Millionen Palästinenser nicht dazu verurteilen, an einem unbewohnbaren Ort zu leben, muss der Wiederaufbau sehr bald beginnen.

Der menschliche Preis des Krieges

Krieg ist nicht allein die Zerstörung von Gebäuden und Infrastruktur. Krieg ist mehr als Statistik und Kosten. Hinter jedem Detail verbirgt sich die Geschichte eines Menschen. Eine der größten Fabriken, die während des Kriegs zerstört wurde, beschäftigte 400 Menschen. Ich kenne den Gründer dieser Fabrik sehr gut. Ich weiß noch wie er vor 30 Jahren mit einer kleinen Bäckerei in einem Lagerhaus anfing, wo Kuchen und Eis produziert wurden. Vor dem Krieg wurde der Wert seiner Fabrik auf 20 Millionen US-Dollar geschätzt.

Gegen Ende des Krieges zerstörte die israelische Armee einige der höchsten Wohnblöcke in Gaza. Einer davon war der 1997 erbaute Al Zafer 4 Tower. Es war ein zwölfstöckiges Gebäude mit 42 Wohnungen; 300 Personen lebten dort. Den Bewohnern des Hauses gab man 15 Minuten Zeit, es zu räumen, dann wurde es zerstört. Wie sollen 300 Personen in so kurzer Zeit entscheiden, was ihnen von allen Erinnerungen und Gegenständen am Wichtigsten ist und was sie mitnehmen sollten? Einer der Bewohner, ein Journalist, sitzt im Rollstuhl.

Er schrieb einen Artikel, in dem er seine ungeheure Wut beschrieb, und in dem er fragte, warum ein Wohnhaus, in dem Angehörige der Mittelklasse lebten – Ärzte, Ingenieure und Lehrer – als Ziel gewählt wurde. Schmerzlicher noch, schrieb er, sei es, wenn man Dinge verliert, die wichtiger sind als ein Gebäude – wenn man Erinnerungen verliert, Bücher, persönliche Gegenstände, die sich nicht ersetzen lassen. Unter seinen Sachen war eine CD, auf der sich 15 Jahre seiner Arbeit als Journalist befanden. Gebäude kann man neu bauen, Erinnerungen nicht. Um diese Hoffnungslosigkeit zu besiegen, braucht es einen neuen, kühnen politischen Versuch, einen Ansatz, der den Menschen in Gaza endlich die Chance gibt, in Würde und Frieden zu leben.

Eine frühere Fassung dieses Artikels erschien in englischer Sprache auf der Website Shabaka.